Die Geschichte des Städtischen Musikvereins Bottrop 

 

„Ein Chor, der im Weltkrieg gegründet, 25 Jahre hindurch, trotz Inflation und Ruhrbesetzung und auch im augenblicklichen Kriege, im schwersten, den Deutschland zu bestehen hatte, sich behauptet hat, der wird auch in den kommenden 25 Jahren seine Daseinsberechtigung beweisen, allen Hindernissen zum Trotz.“

Diese Zeilen entstammen der Festrede des Geschäftsführers Klemens Klaus zum 25-jährigen Jubiläum des Chores im Jahre 1943. Wie recht er hatte! Jetzt sind seit der Gründung des Städtischen Musikvereins Bottrop 100 Jahre vergangen und er zählt weiterhin zu den Aushängeschildern Bottroper Kultur.

 

In der Industriegemeinde Bottrop, die im Gründungsjahr 1918 schon 70.000 Einwohner zählte, hatte nie zuvor ein Konzert mit Werken anspruchsvoller Musik stattgefunden. Durch Blas- und Militärkapellen waren verschiedene „volkstümliche“ Musikrichtungen verbreitet. Die Chorszene war durch mehrere Kirchen- und weltliche Männerchöre schon recht beachtlich. Auch diese waren jedoch von den „großen“ Werken der Weltliteratur weit entfernt. Eine klassische musikalische Tradition musste erst aufgebaut werden.

1916 war bei einer Aktion zur Kriegsspendensammlung auf dem Pferdemarkt ein gemischter Chor dabei, der „patriotische Lieder“ sang. Er bestand aus Sängerinnen und Sängern verschiedener Bottroper Chöre. Es dirigierte der Kaplan und Chorleiter der Cyriakuskirche, Bernhard Schmedding. 1917 rief Kaplan Schmedding diesen „Bottroper Sängerbund“ wieder zusammen, um die vom Krieg entmutigten Bürger ein wenig abzulenken. Der kulturell rührige 1. Beigeordnete der Gemeinde Bottrop, Dr. Ewald Brinkmann, plante, dass das 1. Bottroper Symphoniekonzert am 1. März 1918 in der „Schauburg“ stattfinden sollte. Das Kölner „Philharmonische Orchester“ spielte vor 1.200 Zuhörern Werke von Beethoven, Haydn, Wagner und Weber. Innerhalb dieses Konzertes schlug Dr. Brinkmann öffentlich vor, einen Musikverein zu gründen. „Ein großer gemischter Chor soll gegründet werden, der unter sicherer Führung das heimische Musikleben auf breiter Grundlage zu entwickeln hätte.“

 

Die Gründungsversammlung fand am 11. Juli 1918 statt. Trotz durch den Krieg dezimierter Männerstimmen kamen bald 60 Sänger und an die 150 Sängerinnen (!) zusammen. Die Mitglieder kamen vor allem aus der Beamten- und Lehrerschaft, aber auch aus vielen anderen Teilen der Bevölkerung.

 

Als erster Leiter des Chores wurde Franz Plantenberg benannt, der in Recklinghausen, Buer und Gladbeck die symphonischen Konzerte dirigierte. Die erste Probe fand am 20. September 1918 im Endemannschen Saal, später „Westfälischer Hof“, statt. Durch die Wirren nach dem Kriegsende mussten Proben verschoben werden. Das Probenlokal war vom Militär besetzt. Am 14. März 1919 wurde das erste Konzert mit volkstümlichen und geistlichen a-cappella-Sätzen gegeben. Direkt danach begann man (erst!) mit den Proben für das erste klassische Chorwerk: „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn erklang am 28. und 29. Juni 1919 in der „Schauburg“, in der der Reporter eine „erdrückende Fülle“ bemerkte, an beiden Tagen jeweils etwa 1.200 Konzertbesucher. Nach dem ersten Konzert am Montag wurde dem “freudig erregten” Publikum erstmals die Stadtwerdung Bottrops verkündet. Die Stadtspitze wartete eine Woche, um diese damals unglaubliche Nachricht der Öffentlichkeit im ersten oratorischen Konzert in Bottrop bekannt zu machen. Die Begeisterung war überwältigend.

Drei Jahre später, 1922, erkrankte Franz Plantenberg und es wurde die Position eines „Städtischen Musikdirektors“ ausgeschrieben, die aus fast 100 Bewerbern Franz Switing (1890-1964) erhält und 42 Jahre lang behalten sollte. Switing, Absolvent der Kölner Musikhochschule und Schüler von H. Abendroth, schaffte es mit leidenschaftlicher Hingabe und seinem unbedingten Willen, stets das Höchste zu wollen, eine neue, im besten Sinne anspruchsvolle Epoche des Bottroper Musiklebens einzuleiten. Unter seiner Leitung wurde 1924 die Matthäus-Passion von J.S. Bach mit 400 Mitwirkenden aufgeführt. Er setzte weitere frühe Höhepunkte im Kulturleben Bottrops mit Aufführungen der 9. Sinfonie und der Missa solemnis von Ludwig van Beethoven anlässlich der Beethovenfeier 1927. 

 

Weit über die Grenzen Bottrops hinaus wurden Dirigent und Chor bekannt, als 1926 mit „König David“ von Arthur Honegger und 1931 mit „Das Unaufhörliche“ von Paul Hindemith zwei Werke der Moderne auf dem Programm standen, die jeweils kurz nach den Uraufführungen in Bottrop zu hören waren.

 

Auf dem Höhepunkt seines Wirkens sang der Städtische Musikverein Bottrop unter Switings Leitung beim Fest der deutschen Chormusik 1953 in Essen den „100. Psalm“ von Max Reger. Die überregionale Presse und der NWDR berichteten begeistert von der Veranstaltung (im Konzert gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Köln). Der Chor wurde dann auch kurzfristig eingeladen, im Abschlusskonzert mit sieben anderen Chören Beethovens “Neunte” mitzugestalten.

In den 42 Jahren unter Franz Switing sang der Chor alle bedeutenden Chorwerke der letzten 250 Jahre. Ihm gilt auch heute noch unser Dank für die beispiellose Aufbau- und sehr erfolgreiche künstlerische Arbeit, der er für Bottrop und uns, seinen Chor, leistete.

Nach Switings Tod wurde 1965 GMD Hubert Reichert sein Nachfolger. Er war seit 1958 Generalmusikdirektor des Westfälischen Sinfonieorchesters in Recklinghausen. Er setzte zunächst die erfolgreiche Arbeit fort. Unter seiner Leitung sang der Chor häufig auch außerhalb Bottrops. Die Aufführungen zusammen mit anderen Chören (z.B. dem Städtischen Chor Recklinghausen) stießen auf enormes Interesse und erhielten hervorragende Kritiken. Allerdings war er nicht unumstritten und blieb nicht sehr lange. Der Mitgliederbestand reduzierte sich in dieser Zeit bedenklich.

 

 

Das Bild unten zeigt das Konzert zum 50-jährigen Jubiläum 1968. Unter Reicherts Leitung wurde Beethovens 9. Sinfonie gespielt.

1972 übernahm Musikdirektor Johann Andreas Lang die Leitung des Städtischen Musikvereins Bottrop. Unter seiner Führung kam es zur regelmäßigen Zusammenarbeit mit der Musikgemeinschaft Marl, die ebenfalls unter Langs Leitung stand. Viele, zum Teil Jahrzehnte andauernde Freundschaften entstanden. Lang, der schon mal als “lustiger Vogel” betitelt wurde und seine Probenarbeit mit viel Humor „würzte“, setzte ungewöhnliche Akzente bei den Chorkonzerten in Bottrop, z.B. mit Opernquerschnitten, aber durchaus auch mit anspruchsvollen Werken. Sein Ruf lockte immer wieder namhafte Solisten in unsere Konzerte.

Die fruchtbare Zusammenarbeit endete mit dem jähen Tode Langs Anfang 1990. Der Musikverein sah sich erneut in einer schwierigen Situation. Die Verbindung mit der Musikgemeinschaft Marl konnte nicht aufrecht erhalten werden. Der Chor schrumpfte. Mit Unterstützung des Kulturamtes wurde im selben Jahr ein neuer Dirigent gefunden:

Friedrich Storfinger.

 

Er absolvierte sein Kirchenmusikstudium an der Folkwang-Hochschule in Essen. A-Examen, Konzertexamen, Dirigierstudium an der Musikhochschule Köln. Er war seit 1968 als Kirchenmusiker tätig; anerkannter Orgelvirtuose und zuletzt Regionalkantor für Bottrop/Gladbeck. Storfinger agierte souverän und unverkrampft; er verstand es, die Sängerinnen und Sänger für sich zu gewinnen. Neue, auch jüngere Mitglieder stießen immer wieder hinzu. Die ständige Suche Storfingers nach Außergewöhnlichem, nach selten (oder nie) gespielten Werken, in Archiven in Europa und den USA, beeindruckten sowohl die Sängerinnen und Sänger wie das Publikum und die Kritiker.

 

Seine Proben waren zuweilen anstrengend, aber nie langweilig (und selten freudlos). Seine Reputation bei den Orchestern der Region (u.a. Neue Philharmonie Westfalen, Folkwang-Kammerorchester, Bochumer Symphoniker, Bottroper Kammerorchester, Bergische Symphoniker) und den Solisten aus ganz Deutschland war hoch. Manche Aufführungen wurden legendär, so z.B. das deutsch-französische Konzert im Rahmen der Feierlichkeiten zum Jubiläum der Partnerschaft mit Tourcoing. Der Musikverein stellte Brahms, Rheinberger und Beethoven Chabrier, Fauré und Berlioz gegenüber. Der Chor wurde gefeiert. Im Jahre 2000 übernahm Friedrich Storfinger auch die Leitung des Städtischen Musikvereins Gladbeck. Dadurch ergaben sich erneut bei entsprechend „großer“ Literatur Möglichkeiten, beide Chöre gemeinsam singen zu lassen. Aus dieser leider nicht sehr langen Zusammenarbeit sind einige herausragende Konzerte dokumentiert (z.B. Horatio Parkers „Hora Novissima“, Orffs „Carmina Burana“ und andere). Mit einem hervorragenden Konzert am 8. März 2020 (u. a. Mendelssohn Bartholdys 2. Sinfonie „Lobgesang“) ging Friedrich Storfinger in den verdienten Ruhestand.

Es folgten eineinhalb Jahre völligen Stillstandes, wie bei allen Chören in Deutschland, Europa und der Welt: eine Pandemie (Corona oder covid-19) erwies sich als sehr hartnäckig und gerade das Singen im Chor gehörte zu den gefährlichsten Tätigkeiten.

Die Suche nach einem Nachfolger wurde vom Vorstand des Chores mit dem Kulturamt betrieben.

Im August 2021 war es dann endlich wieder so weit: die Probenarbeit, 18 Monate lang verboten und gefährlich, konnte wieder aufgenommen werden, und der neue Dirigent hieß Ludger Köller. Er hatte sich einen Namen gemacht als Leiter des Projektchores der Arbeitsgemeinschaft Bottroper Chöre und hat für seine Konzerte mit diesem Chor brillante Kritiken bekommen. Deshalb war man der Meinung, es mit ihm versuchen zu können.

 

1991-1996 studierte er Schulmusik an der Folkwang- Musikhochschule Essen

Klavier, Gesang und Chorleitung. Das anschließende Dirigierstudium mit Hauptfach Chorleitung schloss er 1998 mit künstlerischer Reifeprüfung ab. Nach dem Referendariat arbeitet er seit 2001 hauptberuflich als Musiklehrer am Gymnasium Essen-Überruhr, an dem er die Chorarbeit mit dem Konzept der Gesangklasse von der Klasse 5 bis zum Oberstufenchor aufbaute.

 

In Bottrop leitete er 1992 - 2007 das Männerquartett 1881 e.V. Seit 1999 ist er musikalischer Leiter der Bottroper Chortage, die alle drei Jahre von der Arbeitsgemeinschaft Bottroper Chöre e.V. durchgeführt werden.

2006 wurde er zum Chordirektor in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC) ernannt.

 

Das erste Werk mit dem neuen Dirigenten soll das "Requiem" Von Wolfgang Amadeus Mozart werden.

Den Vorsitz des Städtischen Musikvereins Bottrop hatte seit Beginn der Oberbürgermeister inne; später der Oberstadtdirektor; ihm zur Seite stand ein Geschäftsführer oder Zweiter Vorsitzender. Seit die Position des Oberstadtdirektors mit der des Oberbürgermeisters identisch ist, hat wieder der Oberbürgermeister den Vorsitz. Sein Vertreter im Chor ist der Geschäftsführende Vorsitzende. Hier Oberbürgermeister Bernd Tischler, Vorsitzender seit 2009 mit Rainer Neuwirth, Geschäftsführender Vorsitzender seit 1996.

 

 

 

Im Jahr 1996 trat Ernst Mertens als Geschäftsführender Vorsitzender nach 22 Jahren erfolgreicher Arbeit zurück. Sein Nachfolger wurde Rainer Neuwirth. Sein sehr gutes Verhältnis zum Dirigenten, zum Kulturamt und zur anspruchsvollen Chormusik erleichtern eine „Modernisierung“ des Vereins. Zusammen mit einem tatkräftigen Vorstand, einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem damaligen Vorsitzenden, Oberbürgermeister Ernst Löchelt, dem Kulturamt und seinen Leitern Dieter Wollek, Andreas Kind und seit März 2021 Martina Schilling-Graef sowie stets „mitziehenden“ Sängerinnen und Sängern steht der Chor heute klangstark und selbstbewusst auf den Bühnen der Stadt und der Region. Seit seiner Wahl zum Oberbürgermeister 2009 ist Bernd Tischler Vorsitzender des Chores. Er unterstützt uns zusammen mit den Kulturamtsleitern in bemerkenswerter Weise. Sie ermöglichen uns Konzerte wie z. B. das OrgelPlus-Abschlusskonzert am 12. Januar 2016, in dem wir an einem langen Nachmittag und Abend alle sechs Sätze des “Weihnachtsoratoriums” von Johann Sebastian Bach aufführten, oder beispielsweise auch die drei opulenten Konzerte 2018/2019 zu unserem 100-jährigen Jubiläum.

Natürlich war nach der 18-monatigen Pandemiepause ein Neuanfang nötig.

Im Jahre 1946 trat ein Mitglied in den Chor ein, das später weltweit bekannt wurde: August Everding. Als Sohn des Propsteiorganisten in Bottrop geboren, erhielt er früh eine gesamtmusikalische Ausbildung. Dazu gehört auch das „Studium“ des Gesanges in unserem Chor. Er sang nur drei Jahre mit uns, um dann an den Bühnen Deutschlands und der Welt zu inszenieren (Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Präsident der Internationalen Vereinigung der Opernhausdirektoren, Vorsitzender des Deutschen Kulturrats, Mitglied des Goethe-Instituts...). Er blieb uns jedoch bis zu seinem Tode 1999 freundschaftlich verbunden. Legendär sind seine Reden zum 50- und zum 75-jährigen Jubiläum des Musikvereins in den Jahren 1968 und 1993. Everdings Schwester Cäcilia sang – mit Ihrem Mann, dem langjährigen Geschäftsführer Ernst Mertens - fast 60 Jahre in unserem Chor.

August Everding war regelmäßiger Gast in Bottrop und beim Städtischen Musikverein. Hier mit Oberbürgermeister Ernst Löchelt, damals Vorsitzender des Chores.

Wie überhaupt viele Familien gleich mit mehreren Mitgliedern vertreten waren und sind. Ein Beispiel war die Familie Bock. Mutter Alice war jahrzehntelang Mitglied und viele Jahre im Vorstand tätig. Sie wurde später Ehrenmitglied des Städtischen Musikvereins. Ihre Söhne Eberhard und Claus traten 1953 dem Chor bei. Claus Bock studierte später Gesang und stand zwischen 1955 und 1993 in insgesamt 18 Konzerten unseres Chores als Tenorsolist auf der Bühne. 

 

Im Jahre 1933 vereinigte sich der „Gemischte Chor des Lehrervereins“ mit dem Städtischen Musikverein. Einige Jahrzehnte lang kamen viele Mitglieder aus der Lehrer- und Beamtenschaft der Stadt. Heute ist die Zusammensetzung des Chores sehr viel breiter gemischt: Lehrer und Angestellte, Musiker und Kaufleute, Handwerker und Schüler bilden einen intellektuell heterogenen, musikalisch aber homogenen Musikverein.